Leidenschaft, Frust und Freude – Emotionen.
Eine Reportage von Jan Schürmann zum Thema „Eigentlich gehöre ich nicht dazu“ - Wie eine junge Berlinerin gegen ihr Schicksal ankämpft.
Autos drängeln, Fußgänger hasten, Busse jaulen: der Kurfürstendamm mitten in Berlin. Die 3,5 km lange Straße im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf gehört zu den belebtesten der Hauptstadt. Susanne Hentschel steht an einer schwarz lackierten Ampel unweit des Kaufhauses des Westens am Wittenbergplatz. Neben ihr warten viele andere Fußgänger auf das grüne Berliner Ampelmännchen, welches das Überqueren der Straße erlaubt: Ein kleiner Junge auf seinem gelben Mountainbike, der ungeduldig mit seiner schrillen Fahrradklingel spielt, ein schreiendes Baby auf dem Arm seiner telefonierenden Mutter und ein hustender Bänker. Alle starren auf das rote Ampelmännchen. Schnell vorbeifahrende Autos und Motorräder erhöhen den Geräuschpegel. Für die meisten Menschen ist das nichts Besonderes, eine triviale Situation, die aus dem täglichen Leben bekannt und wenig herausfordernd ist. Anders bei Hentschel. Die 30-jährige Berlinerin besitzt auf beiden Augen eine Sehkraft von insgesamt zehn Prozent. Auf dem rechten Auge ist sie fast vollständig erblindet. Sie erkennt das grüne Ampelmännchen aufgrund der Entfernung und der blendenden Sonne nicht und ist darauf angewiesen, den Straßenverkehr im Großstadtdschungel über ihren Hörsinn wahrzunehmen. „Da kann das Flanieren über den Ku’damm auch mal mehr zur Herausforderung werden“, sagt Hentschel nachdenklich. „Aber heute ist’s besonders wichtig!“, freut sie sich. Warum? Das verrät Sie am Ende des Spaziergangs. Die Ampel springt von Rot auf Grün um.
Nicht immer hatte Hentschel Grund zur Freude. Im siebten Lebensjahr bekommt sie kurz vor der Einschulung bei der Schuleingangsuntersuchung die niederschmetternde Diagnose: Chronische Uveitis. Eine Entzündung des Augeninneren, die dazu führt, dass der Betroffene massiv an Sehkraft verliert. Nach Angaben der Deutschen Uveitis Arbeitsgemeinschaft DUAG e.V. tritt die Augenkrankheit bei etwa 50 von 100.000 Personen auf. Bei Hentschel ist dies angeboren, vermutet sie. Als Kind habe die gebürtige Chemnitzerin von der Krankheit jedoch nichts bemerkt und wie alle anderen Kinder gerne Fangen gespielt oder das riesige Klettergerüst im Garten der Kita erklommen. „Ich habe eben alles gemacht, was man als Kind so macht und bin immer neugierig durch die Welt gegangen, was ich noch immer tue“, sagt sie ernst. Hentschel war es wichtig, mit ihren Spielgefährten aus dem Kindergarten zur Schule zu gehen und saß dort immer in der ersten Reihe, um die Tafel lesen zu können. „Natürlich möchte man lieber weiter hinten sitzen und je höher die Klassenstufe, desto häufiger kamen die Hänseleien, aber ich wollte nicht auf eine Blindenschule wechseln“, erinnert sich Hentschel, während sie auf die Berliner Gedächtniskirche blickt. 16 Uhr 15 zeigen die drei Meter großen goldenen Zeiger auf dem schwarzen Ziffernblatt der Uhr – schemenhaft für Hentschel erkennbar. Das eindringliche Glockenläuten ist nicht zu überhören. Danach wandern Hentschels Augen die Straße entlang. Was sie wahrnimmt: einen roten doppelstöckigen Touristenbus, den schnellen Straßenverkehr, das rege Treiben auf dem Ku’damm. An diesem sommerlichen Samstag im Juni ist die beliebte Flaniermeile besonders gut besucht. Hentschel kauft sich drei Kugeln Eis in der Waffel: Erdbeere, Vanille und Schokolade. Sie setzt ihren Spaziergang über den Kurfürstendamm fort. Dass Hentschel so wenig sieht, merkt man ihr kaum an. Bewusst verzichtet sie auf Hilfsmittel wie Blindenstock oder -abzeichen – „aus Eitelkeit“, wie sie selber sagt. Sie möchte selbstständig sein und selbstständig entscheiden, wann sie Hilfe braucht. Wenn es aber nicht anders ginge, würde sie darauf zurückgreifen. „Kennt man mich nicht, denkt man nicht, dass ich so stark beeinträchtigt bin. Ich gehe aber offen damit um. Entweder man kommt damit klar, oder eben nicht. Ich sehe mich inzwischen nicht mehr als Sehbehinderte“, sagt die studierte Sozialarbeiterin aus tiefster Überzeugung. Warum sie sich nicht verstecken will? „Wir haben nur dieses eine Leben und ich lebe es so normal, wie eben möglich. Ich verzichte auf nichts, was ich erleben möchte“.
So geht Hentschel verschiedensten Leidenschaften nach – eine von vielen: Konzerte besuchen. „Ich liebe Musik, spiele leidenschaftlich gerne Klavier. Musik versteht jeder, unabhängig von Alter, Herkunft oder irgendeiner Beeinträchtigung. Das ist bewiesen!“, sagt die dunkelblonde Berlinerin. Durch die Sehbeeinträchtigung sind andere Sinne viel stärker ausgeprägt, darunter auch der Hörsinn. Der ermöglicht es ihr, im Restaurant auch mal der Unterhaltung am Nachbartisch zu lauschen, verrät Hentschel schmunzelnd. Ihre größte Passion jedoch: Verreisen. Es schenke ihr ein kostbares Lebensgefühl voller Freiheit. Hentschel ist es wichtig, zu zeigen, dass sie genauso aktiv ist, wie andere. Sie reiste quer durch die Vereinigten Staaten, war bereits fünf Mal in New York City, in Spanien und zuletzt 2017 in Südafrika. Aber soll es das gewesen sein? „Noch lange nicht!“, freut sich Hentschel. Ihre Sehbeeinträchtigung schränkt ihre Liebe zum Verreisen nicht ein – im Gegenteil: Zielstrebig steuert die junge Frau ein Reisezentrum unweit des Zoologischen Gartens an. Wohin soll es als Nächstes gehen? „Während meines Geburtstages nach Marokko. Das war schon immer ein Traum von mir und heute erfülle ich ihn mir endlich. Ich fühle mich nach jeder Reise immer ein bisschen mutiger“, erzählt die zuversichtliche Berlinerin mit funkelnden Augen.
Leidenschaft, Frust und Freude – diese Emotionen haben alle. Auch Sehbeeinträchtigte. Wichtig sei es, niemals aufzugeben und das Bestmögliche aus dem Leben zu machen. Mit ihrer lebensfrohen wie auch stets positiven Einstellung zeigen alle Ampeln in Hentschels Leben wohl weiterhin grünes Licht.